Rede von Christoph Zink im Gemeindezentrum Sonnenberg
nach der Beerdigung von Jörg Zink am 26. September 2016
... Es ist, wie ich finde, ein guter und sinnvoller Brauch, nach einem Begräbnis nicht gleich wieder auseinanderzulaufen und den eigenen Tagesaufgaben nachzugehen, sondern noch eine Weile beisammenzubleiben. Man hat gemeinsam den Körper eines Verstorbenen der Erde wiedergegeben, die ihn einmal geboren hat, und bleibt dann beieinander, um noch einmal zusammen des Menschen zu gedenken, der er einmal war: Man gibt sich eine gemeinsame Zeit, um an ihn zu denken, sich an ihn zu erinnern, seiner Seele nachzuspüren und vielleicht eine Ahnung davon zu bekommen, was aus dem gerade vergangenen Leben für das eigene weitere Leben bleibt ‒ was es zu bewahren, zu lernen und weiterzutragen geben könnte.
Über Jörg Zink ist hierzu in den vergangenen Tagen von vielen Seiten vieles gesagt und geschrieben worden, auch heute haben wir noch einmal einiges dazu gehört: viel Dankbarkeit und viel Lob, viel Bewegendes und Erhellendes. Darum ist es nicht einfach, an dieser Stelle noch weitere Gedanken anzufügen. Ich möchte es trotzdem versuchen und mich dabei auf eine Überschrift aus der Süddeutschen Zeitung beziehen, die ich besonders kurz und treffend finde. Dort überschrieb Matthias Drobinski seinen Nachruf mit diesen Worten:
»Er war so frei.«
Ja, ich glaube, das war unser Vater ‒ in beiden Betonungen, die dieser Satz haben kann: Er war so frei, sich etwas herauszunehmen: zu sagen und zu tun, was er für wichtig und richtig hielt, ohne sich Sorgen zu machen, bei wem er damit vielleicht Unmut erregt. Und er war so frei, wie es wohl nur selten einem Menschen ein Leben lang gelingt, ohne irgendwann müde zu werden oder zu resignieren und sich schließlich doch einer üblichen, allgemein für akzeptabel gehaltenen Meinung anzuschließen. Bei unserem Vater Jörg war dieses Frei-Sein ein konstantes Motiv bis in seine letzten Tage:
Er war zum einen so frei, eigentlich alle Fragen nicht nur mit dem Verstand, sondern zugleich mit dem Gefühl zu bewerten; er war so frei, dem überlieferten Wissen immer die eigene Erfahrung gleichberechtigt gegenüberzustellen, und er kam so in zahlreichen Fragen zu neuen, weiter reichenden Gedanken und Vorschlägen. Er war auch so frei, ganz entgegengesetzte Ansichten gründlich zu bedenken und sie nicht gleich als falsch oder abwegig abzutun, nur weil sie vielleicht einer gängigen Lehrmeinung widersprachen.
Auch im Umgang mit anderen Menschen war er, zum anderen, so frei, nicht unbedingt auf dem eigenen Standpunkt zu beharren, sondern sich auch mit ganz anderen Standpunkten ernsthaft zu befassen. Er hat in dieser Freiheit, fremde Standpunkte anzuerkennen und zu bedenken, gerade bei seinen Gegnern und Kritikern wahrscheinlich viel mehr bewegt, als er mit Disputieren und Streiten je hätte erreichen können.
Darum war er zum Beispiel so frei zu behaupten, dass Christen es in politischen Fragen unbedingt mit den Weisungen der Bergpredigt versuchen sollten. Er blieb standhaft, auch wenn fast alle anderen sagen, in der Praxis sei etwa die Feinde zu lieben ein Ding der Unmöglichkeit. Er jedenfalls hielt bis ins hohe Alter an der Überzeugung fest, dass jede Art Kriege – gerade auch solche, die angeblich dem Frieden dienen – sich in keinem Fall eignen, Konflikte zu lösen, auch wenn dies immer noch manche Kirchenvertreter und andere Christen meinen.
Jörg war aber zudem, zum dritten, immer so frei, seine Ziele offen zu halten und es nicht darauf anzulegen, in Streitfragen recht zu bekommen oder in Konflikten zu gewinnen. Ihm hat es genügt, in seinem Reden und Tun Beispiele zu setzen: kleine konkrete Beiträge, von denen er überzeugt war, dass sie ‒ wie Samenkörner, die in einen Acker fallen ‒ unter dem Segen Gottes einmal heranwachsen können zu einer großen, alles umfassenden Änderung im Denken, zuletzt sogar bei einer Mehrheit, die sich neuen Gedanken bisher noch weithin verschließt.
Gegründet auf diesen festen Glauben konnte er schließlich, zum vierten, so frei sein, sich trotz allem gegenteiligen Anschein eine Zukunft vorzustellen, in der aus den vielen Problemen und Konfrontationen der heutigen Welt nicht eine große Katastrophe erwächst, wie wir sie alle für furchtbar möglich halten, sondern zu sagen: »Fürchtet euch nicht!«, und uns seine Vision von einer gerechteren, friedlicheren und heilsameren Welt zu erklären, die er selbst ganz allmählich entstehen sah.
Ja, ich glaube, so war unser Vater – so frei, über seine Meinungen, seine Standpunkte, seine Ziele und seine Hoffnungen selbst zu entscheiden und sie uns ruhig und wie selbstverständlich immer wieder neu und immer noch einmal in anderen Worten und Bildern zu erklären. Von ihm konnten wir lernen, das uns nur diese Art Denken aus der vermeintlich ausweglosen Lage der Welt in eine rettende, friedliche Zukunft führen könnte.
Dafür, vor allem dafür, werde ich Jörg ein Leben lang dankbar sein, und es wäre schön, wir würden diesen Gedanken alle mit nach Hause nehmen: Lasst uns so frei sein, wie Jörg es probiert hat! Wenn wir es immer wieder probieren, jede auf ihre Weise und jeder auf seine, wird jedes Mal ein kleines Stück der besseren Welt Wirklichkeit, von der Jörg ein Leben lang geträumt hat, für die er sich eingesetzt hat und die er in zahllosen Beispielen zu erklären so lange Jahre nicht müde wurde. Seien wir also so frei und fürchten wir uns nicht!
Ich danke Dir, lieber Jörg! Ich danke auch Dir, liebe Heidi, und ich danke Euch allen. Wir bleiben auch weiterhin, friedlich und mutig, zusammen!